Karfreitagspredigt über Kolosser 1,13-20 von Kerstin Strauch

Liebe Gemeinde!
I.
Karfreitag richtet sich unser Blick auf das Kreuz. Nichts soll davon ablenken, was auf Golgatha passiert ist. Doch was bedeutet es, dass Jesus gekreuzigt wurde? Warum musste diese grausame Tötung geschehen?
Der spanische Künstler Pablo Picasso hat die Kreuzigung zu deuten versucht, indem er sie in eine Stierkampfszene einzeichnete.
Wir sehen den Kopf eines sich wild aufbäumenden Pferdes – Erschrecken und Panik sind angedeutet. Wir ahnen etwas von dem Entsetzen, das der vorbeistampfende Stier ausgelöst hat. Der Gekreuzigte hat eine Hand vom Balken gerissen. Hat seinen Lendenschurz gegriffen, hält ihn, wie ein Stierkämpfer das rote Tuch hält, mit dem er die Bewegungen des Stieres dirigiert.
All dies hat Picasso mit nur wenigen Strichen angedeutet – und doch steht uns das Geschehen vor Augen, das der Maler mit seinem Bild eingefangen hat. Der Stier war im Begriff, auf das Pferd loszugehen, ihm die Hörner in den Leib zu rammen. Da lenkt der Gekreuzigte mit seinem Lendenschurz die Aufmerksamkeit des Stieres im letzten Augenblick vom Pferd ab. Noch stößt der Stier nach dem Tuch. Aber weil der ans Kreuz genagelte sich nicht wegbewegen kann, wird der Stier unweigerlich vom Tuch zu dem hingeführt, der es hält. Beim nächsten Anlauf werden seine Hörner ihn treffen. Wehrlos gibt sich der Gekreuzigte dem tödlichen Angriff preis.
II.
Damit führt uns Picasso mitten ins theologische Zentrum des Kreuzesgeschehens.
Er hat Golgatha in eine Stierkampfarena verlegt – für die meisten von uns eine fremde Welt.
Aber so viel verstehen auch wir: Die Arena ist ein Spiegelbild der Welt, in der wir leben: Da herrscht der Tod. Da wird gekämpft und am Kampf verdient. Da wird gewonnen, da wird verloren.
Die armseligsten Verlierer in der Arena sind die Pferde. Sie sind in ihren Bewegungen viel langsamer als der Stier. Werden sie ungeschickt geführt und geraten sie in die Laufbahn des Stieres, sind sie ihm unweigerlich ausgeliefert. In fast jedem Stierkampf verlieren einige von ihnen das Leben. Man hat ihnen bunt verzierte Decken über den Rücken gelegt. Aber diese Decken schützen sie nicht etwa – sie verschonen nur die Augen der Zuschauer vor den grausamen Verletzungen. Kommt es zu Tode, wird es von Mauleseln aus der Arena geschleift. Keiner ehrt solch ein Pferd. Niemand trauert. Sein Tod ist ein typischer Verlierertod.
Und gerade für solch ein Pferd, für das unwichtigste Rädchen im Arenagetriebe, für ein Nichts ergreift der gekreuzigte Partei. Der Gekreuzigte als Torero, den Lendenschurz als Cappa schwingend. Der Torero ist der Herr in der Arena. Er ist der Herr über den Tod. Er verwaltet ihn, spielt mit ihm, zögert ihn hinaus und teilt ihn schließlich aus.
Zweifellos ist auch in Picassos Bild der gekreuzigte der Herr über die Situation. Er ragt aus dem Geschehen heraus. Er schwingt das rote Tuch, die Cappa, in einem perfekten Bogen.
Aber diese Bewegung wird ihm, dem Meister, den Tod bringen. Das Pferd wird gerettet und der Stier, Tötender und Todgeweihter zugleich, wird verschont.
Das ist die Botschaft von Golgatha.
In dieser vom Tod gezeichneten und todgeweihten Welt ergreift der Sohn Gottes Partei für die Opfer. Statt mitzukämpfen gibt er sich hin. Statt den Tod auszuteilen, nimmt er ihn auf sich.
Ein für alle Mal verletzt er die tödlichen Spielregeln und setzt sie außer Kraft.
Der Apostel Paulus schreibt im 1. Kapitel des Kolosserbriefes:
Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene vor aller Schöpfung. Denn in ihm ist alles geschaffen, was im Himmel und auf Erden ist, das Sichtbare und das Unsichtbare, es seien Throne oder Herrschaften oder Mächte oder Gewalten; es ist alles durch ihn und zu ihm geschaffen. Und er ist vor allem, und es besteht alles in ihm. Und er ist das Haupt des Leibes, nämlich der Gemeinde. Er ist der Anfang, der Erstgeborene von den Toten, damit er in allem der Erste sei. Denn es hat Gott wohlgefallen, dass in ihm alle Fülle wohnen sollte und er durch ihn alles mit sich versöhnte, es sei auf Erden oder im Himmel, indem er Frieden machte durch sein Blut am Kreuz. (Kol 1,15-20)
III.
Auf die kürzeste Formel gebracht lautet die Botschaft des Kreuzesgeschehens:
Jesus Christus, gestorben für uns. Das meint Versöhnung und Frieden – wie der Kolosserbrief es umschreibt.
Jesus Christus hat das für uns getan, er wollte Versöhnung, mit Gott, mit der Welt, mit allem, was im Himmel und auf Erden ist. Obwohl in der Kirche sooft davon gesprochen wird, ist es doch schwer zu verstehen. Immer wieder ergeben sich Fragen und ich möchte heute zwei herausgreifen, die ich besonders oft höre:
1. Frage: Warum muss ein unschuldiger Mensch leiden und sterben, damit Gott uns unsere Sünden vergibt und seinen Bund mit uns erneuert? Oder kürzer: Braucht Gott Opfer?
Ich glaube: nein. Gott braucht keine Opfer. Aber wir brauchen es, dass Gott uns und unsere Welt, die noch und noch Opfer produziert, nicht aufgibt. Wir brauchen es, dass Gott mit seiner vergebenden und heilenden Kraft seiner Schöpfung und seinen Geschöpfen gnädig zugewandt bleibt. Und wenn Gott uns die Hingabe seines Sohnes zurechnet, dann besagt das nicht: ein böser, despotischer Gott wurde durch dieses Opfer gnädig gestimmt, sondern im Gegenteil: der gnädige Gott lässt es mit dem Tod dieses Einen für alle gut sein. Zum Zeichen dafür hat er ihm neues unvergängliches Leben gegeben. „Versöhnung“ bedeutet: Gott sieht uns an wie ihn. Wir sind mit Gott im Bunde. Wir, die wir doch sündige Menschen sind, sind Gott recht. Jesu Tod ist unser Leben, Jesu Auferweckung unsere Zukunft.

2. Frage: Jesu Leben für unseres, also stellvertretendes Leiden und Sterben – wie soll man sich das denn vorstellen?
In gewisser Weise kennen wir den Sachverhalt, um den es hier geht, alle. Nur ist er uns so vertraut, dass wir ihn kaum noch wahrnehmen.
Nur weil nicht jeder alles machen muss, kann sich überhaupt Vielfalt entwickeln. Die Arbeit des einen schafft dem anderen Entlastung und Raum für eigene Entfaltung. Auch Paulus´ Bild vom Leib mit den vielen Gliedern beschreibt das An-seinem-Ort-für-andere-Einstehen als eine Grundbedingung für gelingende Gemeinschaft. Nun erklärt das Bild von den Körperteilen noch nicht alles. Dass Jesu Tod dem Barrabas zugutekommt, leuchtet ein: Dieser darf leben, weil jener an seiner Stelle den Tod auf sich nimmt. Aber wie soll Jesu Tod Menschen betreffen, die über Räume und Zeiten von ihm getrennt sind. Was heißt da: „für uns“.
Mir hat sich das „Für uns“ in einem zugegebenermaßen reichlich banalen Zusammenhang erschlossen. Als Borussia Dortmund vor nunmehr elf Jahren sowohl Deutscher Meister wurde als auch noch den DFB-Pokal gewann, war die Freude – nicht nur in meiner Verwandtschaft – groß. Obwohl niemand auch nur annäherungsweise Anteile an den gewonnenen Spielen hatte, hörte ich doch des Öfteren den Satz: „Wir haben gewonnen! Wir sind Meister! Wir haben das Double klargemacht!“
Auf der Innenseite einer Friedhofsmauer auf dem Dortmunder Hauptfriedhof hatte jemand am Tag nach dem Pokalfinale die Parole hin gesprüht: „Ihr wisst nicht, was ihr verpasst habt“.
Ich wähle noch ein völlig anderes Beispiel aus einem sehr ernsten Zusammenhang: Als Willi Brandt vor dem Mahnmal des Warschauer Ghettos auf die Knie sank und Buße tat, da tat er das für uns. Seine Tat kam unserem Volk zugute und war ein nachhaltig wirkender Meilenstein auf den Weg der Aussöhnung zwischen dem polnischen und dem deutschen Volk.
Stellvertretung über Räume und Zeiten hinweg – auch dieser Gedanke ist uns also nicht fremd. Denkbar ist er. Ob das „für uns“ Jesu allerdings glaubhaft ist, hängt freilich daran, ob wir ihn als einen von uns anerkennen und annehmen können. Die biblische Bezeichnung Menschensohn soll uns dabei helfen. Weil in ihm Gott uns als wahrer und wirklicher Mensch begegnet, als einer von uns eben, haben wir Anteil an seinem Geschick, kommen sein Tod und seine Auferstehung uns zugute. Durch die Zeiten hindurch haben Menschen darin ihren Halt und Trost gefunden. Ihre gesprochenen und gesungenen Glaubenszeugnisse führen oft weiter als dogmatische Sätze. So besingt es auch ein modernes Passionslied, das wir gleich asingen werden: Vielleicht, dass dein Kreuz. Das Kreuz ist ein Symbol für all das, was Jesus Christus „für uns“ getan hat. Es ist Ausdruck für die Sehnsucht nach dem Ende allen Leides. Darum: Maranatha! Komm bald, Herr Jesus. Amen.

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