Predigt am 4. Sonntag nach Trinitatis (13.07.2025) über Lukas 6,36-42 von Kerstin Strauch

Liebe Gemeinde,

an einem ganz normalen Wochentag laufe ich durch die Fußgängerzone. Einige Menschen sind unterwegs, schlendern an den Schaufenstern vorbei oder sitzen im Café. Eine Familie mit zwei kleinen Kindern kommt mir entgegen. Die Frau trägt einen langen, schwarzen Schleier. Ihr Gesicht ist kaum zu sehen. „Die Arme!“, geht es mir durch den Kopf. „Wieso muss die sich so verschleiern?“

Weiter unten höre ich, wie zwei Menschen lautstark miteinander reden. Streiten sie? Ich kann das nicht genau sagen. Aber ich denke: „Muss das denn sein? Warum klärt ihr eure Sachen nicht ruhiger?“

Schließlich stehe ich an der Kasse eines Ladens. Vor mir ein älterer Mann. Ich merke schon, wie er seinen Geldbeutel sucht. „Auch das noch!“, denke ich, weil ich ahne, dass es jetzt länger dauert. Er holt allerdings nur ein Taschentuch aus seiner Tasche und zahlt mit Karte…

Auf dem Rückweg sehe ich, wie das Paar, das gerade noch lautstark miteinander diskutierte, miteinander einmütig auf einer Bank sitzt. Und die verschleierte Frau? Die habe ich nicht wiedergesehen. Aber mir ist aufgegangen: „Ich weiß doch gar nichts über sie. Vielleicht lebt sie glücklich und trägt ihren Schleier aus freien Stücken?“

Es sind Alltagszenen, liebe Gemeinde, die ich kurz beschrieben habe. Szenen, die vielleicht auch euch bekannt vorkommen. Wie schnell bilden wir uns ein Urteil über andere! Wie schnell schieben wir Menschen in eine Schublade!

Dazu hat Jesus etwas zu sagen. In seiner berühmten Bergpredigt, die beim Evangelisten Lukas „Feldrede“ heißt, kommt er darauf zu sprechen, dass wir uns Gottes Handeln zum Vorbild nehmen sollen. Konkret geht es um Barmherzigkeit.

Hören wir den Predigttext für den heutigen Sonntag aus dem sechsten Kapitel des Lukasevangeliums. Jesus sagt:

36Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. 37Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben.

38Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch zumessen.

39Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis: Kann denn ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen? 40Ein Jünger steht nicht über dem Meister; wer aber alles gelernt hat, der ist wie sein Meister.

41Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, aber den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr? 42Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, danach kannst du sehen und den Splitter aus deines Bruders Auge ziehen.

Heilige mich in der Wahrheit, Gott. Dein Wort ist die Wahrheit. Amen.

Das sind ganz schön große Forderungen, die Jesus da an uns richtet:

  1. Seid barmherzig!
  2. Richtet nicht über andere!
  3. Vergebt einander!

Wer sich daran hält, lebt friedlicher, erfüllter, beschenkter.

Wenn etwas schiefgeht, wenn ich mich im Nachteil fühle oder mir etwas gründlich misslungen ist, gibt es einen Reflex, der so uralt ist wie die Menschheit selber: Ich suche die Schuld beim anderen.

Warum leben wir nicht mehr im Paradies? Weil Adam und Eva daran schuld sind!

Damit hat es angefangen. Nicht wir sind schuld, sondern die!

Jesus fordert uns sehr deutlich auf, diesen Reflex wahrzunehmen und anders zu sehen und zu handeln. Ganz deutlich macht er das mit der Frage: Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, aber den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr?

Welche Balken will ich nicht sehen in meine Leben?

Vielleicht habt ihr diese Erfahrung auch schon einmal gemacht: Oft sind es gerade die Dinge, die ich an mir selbst nicht leiden kann, die mich am anderen besonders stören.

Und jetzt kommt die Herausforderung: Wenn wir dem folgen, was Jesus hier fordert, heißt das, dass ich mich selbst kritisch befrage, bevor ich über jemanden anders urteile.

Wenn ich die Frau mit dem Schleier sehe, könnte ich mich fragen: Warum komme ich auf den Gedanken, dass sie unfrei und unglücklich ist? Wie sieht es denn aus mit meiner Freiheit und meiner Lebenszufriedenheit? Wer engt mich ein? Und ich erkenne: Das ist ein Thema, was gar nicht einfach zu bearbeiten ist. Es verlangt vielleicht ein Umdenken und dann auch einen gewissen Mut von mir, um freier und zufriedener zu leben.

Oder bei dem Paar, das lautstark diskutierte, könnte ich mich fragen: Warum stört mich das? Was triggert mich da eigentlich gerade? Ist es einfach nur die Lautstärke und ich sehne mich gerade einfach nur nach Ruhe? Oder sind es Diskussionen, die auch mir bevorstehen?

Schließlich beim Mann an der Kasse, wäre meine selbstkritische Frage: Warum bin ich so ungeduldig? Geht es nur darum, dass ich unter Zeitdruck stehe oder steht dahinter die Frage, wie ich wohl im Alter mit solchen Dingen umgehe?

Ihr merkt, liebe Gemeinde, in welche Richtung es gehen könnte, wenn ich mich mit meinen eigenen „Balken“ auseinandersetze.

Aber was mache ich eigentlich mit dem Splitter im Auge der anderen?

Dabei geht es um ehrliche, aufrichtige Kritik, um ein gutes Miteinander, das auch die Auseinandersetzung nicht scheut. Habe ich bei meinem eigenen „Balken“ angefangen, mich damit auseinandergesetzt, werde ich meine Mitmenschen – auch die mit Splittern – anders, hoffentlich liebevoller, barmherziger und demütiger – ansehen. Denn mir wird dann eines klar: Auf Gottes Vergebung sind wir alle angewiesen. Niemand von uns ist ohne Fehler.

Diese Predigt von Jesus und besonders das Bildwort vom Balken und vom Splitter ist etwas, das ich im Kopf und im Herz behalten will. Ich weiß, dass ich immer wieder vorschnell urteilen werde. Dass ich Fehler mache. Dass meine Reflexe stark sind und oft nicht bedacht. Aber ich will es versuchen. Immer wieder. Gott wird dabei sein, mich mit seinen liebevollen Augen ansehen und ich werde spüren, dass seine Barmherzigkeit auch in meinem Leben nicht ohne Folgen bleibt.

Amen.

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