Predigt am Drittletzten Sonntag des Kirchenjahres (12.11.2023) über Römer 8,18-25 von Kerstin Strauch

Liebe Gemeinde,
im letzten Jahr hatten wir die Gelegenheit, auf einer Reise nach München bei einer echten Uraufführung dabei sein zu dürfen.
Ich hatte das Stück im Internet entdeckt und dann gleich Karten ergattert – schon viele Monate vorher. Es hörte sich wirklich gut an und die Vorfreude stieg, je näher die Reise rückte. Dann war es soweit. Mit der Tram fuhren wir dorthin. Wir hatten extra viel Zeit eingeplant, um ja nicht zu spät zu kommen. Als wir am Theater ankamen, trafen wir auf viele, denen es ähnlich ging. In bunten Kleidern oder dunklen Anzügen sah man sofort, dass hier etwas Besonderes passierte. Bei einem Glas Sekt oder Saft tauschte man sich aus über das Stück und die Erwartungen. Der Regisseur war bekannt und auch die Darsteller hatten sich schon einen Namen gemacht. Der Inhalt des Stückes war vielsprechend.
Der erste Gong ertönte und die Menge strömte in den großen Saal. Alle nahmen ihre Plätze ein. Das Licht verdunkelte sich und nur noch die Bühne erstrahlte hell. Alle warteten gespannt darauf, dass der schwere, rote Vorhang endlich aufgehen würde. Wenn man so auf etwas wartet, kommt einem das manchmal vor wie eine Ewigkeit. Endlich sollte das Stück losgehen, auf das wir uns so lange gefreut hatten!
Dieses Gefühl der gespannten Erwartung kennt auch Paulus. Es schwingt mit in folgendem Text aus dem achten Kapitel des Römerbriefes (Röm 8,18-25, Basisbibel):
Ich bin überzeugt: Das Leid, das wir gegenwärtig erleben, steht in keinem Verhältnis zu der Herrlichkeit, die uns erwartet. Gott wird sie an uns offenbar machen.
Die ganze Schöpfung wartet doch sehnsüchtig darauf, dass Gott die Herrlichkeit seiner Kinder offenbart.
Denn die Schöpfung ist der Vergänglichkeit unterworfen – allerdings nicht durch eigene Schuld. Vielmehr hat Gott es so bestimmt. Damit ist aber eine Hoffnung verbunden: Denn auch die Schöpfung wird befreit werden aus der Sklaverei der Vergänglichkeit. Sie wird ebenfalls zu der Freiheit kommen, die Gottes Kinder in der Herrlichkeit erwartet.
Wir wissen ja: Die ganze Schöpfung seufzt und stöhnt vor Schmerz wie in Geburtswehen – bis heute. Und nicht nur sie: Uns geht es genauso! Wir haben zwar schon als Vorschuss den Geist Gottes empfangen. Trotzdem seufzen und stöhnen auch wir noch in unserem Innern. Denn wir warten ebenso darauf, dass Gott uns endgültig als seine Kinder annimmt. Dabei wird er auch unseren Leib von der Vergänglichkeit erlösen.
Denn wir sind zwar gerettet, aber noch ist alles erst Hoffnung. Und eine Hoffnung, die wir schon erfüllt sehen, ist keine Hoffnung mehr. Wer hofft schließlich auf das, was er schon vor sich sieht? Wir aber hoffen auf etwas, das wir noch nicht sehen. Darum müssen wir geduldig warten.
Herr, regiere du unser Hören und unser Reden durch deinen Heiligen Geist. Amen.

Dieser Text ist ganz und ganz durchdrungen von der Erwartung. Es geht um die Hoffnung, dass bald etwas Großartiges passiert. Wir sitzen wie vor einem großen Vorhang und warten sehnsüchtig darauf, dass dieser Vorhang aufgeht. Aber was werden wir dann eigentlich sehen?
Hinter dem Vorhang verbirgt sich die Herrlichkeit Gottes. Doch diese Herrlichkeit muss erst noch offenbar werden, wie es im Römerbrief heißt. Und diese Herrlichkeit wird überwältigend sein, wunderbar, unvorstellbar! Sie bedeutet nämlich das Ende von allem, was unser Leben im Hier und Jetzt oft so schwer und schmerzhaft und angsterfüllt macht. Gott wird uns diese Herrlichkeit zeigen, oder „offenbar machen“, wie es im Text heißt. Hinter dem Wort „offenbar machen“ steht das griechische Verb ἀποκαλύπτω. Das bedeutet so viel wie „aufdecken“. Gott wird aufdecken, offenbar machen. Er wird den Vorhang lüften. Aber noch ist es nicht so weit.
Die Herrlichkeit wird verhüllt von der Vergänglichkeit. Alles ist vergänglich. Wir sehen gerade in diesen Tagen, wie die verfärbten Bäume ihr Laub verlieren. Auch dieser schöne Blumenstrauß auf dem Altar wird in ein paar Tagen welk, ganz zu schweigen von den vielen Lebensmitteln, die Tag für Tag verderben. Vergänglichkeit meint aber noch mehr: Alles ist vergänglich. Der Mensch in seinem Körper unterliegt der Vergänglichkeit. Alle Schmerzen, alles Leiden, auch Kriege und Katastrophen sind letztlich Ausdruck der Vergänglichkeit. Darunter ächzt und stöhnt die ganze Schöpfung. Darunter leiden wir alle.
Vergänglichkeit äußert sich in der Angst:
– Angst, den eigenen Ansprüchen nicht gerecht zu werden,
– Angst, einen geliebten Menschen zu verlieren,
– Angst, selber an Leib oder Seele krank zu werden,
– Angst vor Einsamkeit und Tod.
Ängste sind Zeichen unserer Vergänglichkeit. Und diese Ängste sind universell. Sie betrafen die Menschen, an die der Römerbrief ursprünglich geschrieben wurde, genauso wie uns heute. Wir können Gottes Herrlichkeit nicht sehen, weil sie hinter einem dicken Vorhang unserer Vergänglichkeit verborgen ist. Dieser Vorhang ist gewebt aus Ängsten, Leid und Tod. Hineingewebt sind Erfahrungen von uns allen: von jeder und jedem, der heute Morgen hier ist. Denn wir alle leiden unter dieser Vergänglichkeit. Die ganze Schöpfung leidet darunter, die ganze Welt. Fast unerträglich ist das manchmal. Wie schwer liegt dieser Vorhang über allem!
Aber dieser Vorhang – auch wenn er schwer ist – ist keine Mauer, die ewig stehen bleibt. Gott wird diesen Vorhang wegziehen. Er wird seine Herrlichkeit offenbar machen. Dann werden wir sie sehen und uns werden die Augen übergehen.
Das wird dann kein Bühnenstück mehr sein, sondern ganz echt und real und für immer. Alles Leid wird vorbei sein. Keiner wird mehr sterben. Niemand wird mehr Angst haben. Es wird keinen Streit mehr geben und keine Kriege. Friede wird sein, für immer.
Davon haben die Propheten gesprochen. Auch Micha, bei dem wir folgendes lesen können:
Dann wird es kein einziges Volk mehr geben, das sein Schwert gegen ein anderes richtet. Niemand wird mehr für den Krieg ausgebildet. Jeder wird unter seinem Weinstock sitzen und unter seinem Feigenbaum. Niemand wird ihren Frieden stören. Denn der Herr Zebaot hat es so bestimmt. Wir aber leben schon heute im Namen des Herrn, unseres Gottes, für immer und alle Zeit. (Micha 4,3b-4.5b, Basisbibel)
Das ist das Stück, das uns erwartet. Doch anders als bei den meisten Theaterstücken, werden wir nicht bloße Zuschauerinnen und Zuschauer sein. Wir werden selbst Teil davon sein, mitspielen, dabei sein, hautnah erleben, was diese Herrlichkeit Gott ist. Wir werden alle im Frieden leben und es wird kein Leid mehr geben.
Noch ist es nicht so weit. Geduldiges Warten ist angesagt. Noch ist der schwere Vorhang zu. Noch können wir die Herrlichkeit nicht sehen. Wir können nicht genau wissen, wie es hinter dem Vorhang aussieht. Aber auch Vorfreude darf sein, soll sein. Denn wir haben schon eine Ahnung und eine Hoffnung von dem, was uns erwartet. Das Programmheft haben wir schon in der Hand. Dadurch wird unser Leben schon jetzt anders. Denn wir leben auf Hoffnung hin. Wir leben in Erwartung auf das große Stück, das das Ende allen Leids bedeutet. Es wird um Herrlichkeit gehen, um Freude, um Freiheit und um Frieden, der größer sein wird als alles Vorstellbare. Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

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