Liebe Gemeinde,
über Menschen, die Jesus nachfolgen wollten, haben wir vorhin in der Lesung schon einiges gehört. Vielleicht habt ihr noch die ein oder andere Aussage Jesu im Ohr, vielleicht auch nicht. Aber eines hatten alle Antworten, die Jesus gegeben hat, gemeinsam: Sie waren radikal, forderten ein völliges Umdenken und haben es den Menschen, die damals mit Jesus gesprochen haben, sicher nicht einfach gemacht.
Wir reisen jetzt nochmal ungefähr 350 Jahre zurück, so etwa ins Jahr 627 v. Chr. Auch damals gab es Menschen, die sich in den Dienst Gottes gestellt hatten. Manche sprachen in Gottes Auftrag zu den Menschen. Man nennt sie Propheten. Einer von ihnen ist Jeremia. Von ihm ist ein ganzes Buch in der Bibel überliefert. Heute hören wir einen Abschnitt aus diesem Buch, der in der Lutherbibel die Überschrift „Von der Last des Prophetenamtes“ trägt.
Ich lese aus dem 20. Kapitel (VV. 7-11a).
HERR, du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen; aber ich bin darüber zum Spott geworden täglich, und jedermann verlacht mich. Denn sooft ich rede, muss ich schreien; »Frevel und Gewalt!« muss ich rufen. Denn des HERRN Wort ist mir zu Hohn und Spott geworden täglich. Da dachte ich: Ich will nicht mehr an ihn denken und nicht mehr in seinem Namen predigen. Aber es ward in meinem Herzen wie ein brennendes Feuer, in meinen Gebeinen verschlossen, dass ich’s nicht ertragen konnte; ich wäre schier vergangen. Denn ich höre, wie viele heimlich reden: »Schrecken ist um und um!« »Verklagt ihn!« »Wir wollen ihn verklagen!« Alle meine Freunde und Gesellen lauern, ob ich nicht falle: »Vielleicht lässt er sich überlisten, dass wir ihm beikommen können und uns an ihm rächen.« Aber der HERR ist bei mir wie ein starker Held, darum werden meine Verfolger fallen und nicht gewinnen. Sie müssen ganz zuschanden werden, weil es ihnen nicht gelingt. Ewig wird ihre Schande sein und nie vergessen werden. Und nun, HERR Zebaoth, der du die Gerechten prüfst, Nieren und Herz durchschaust: Lass mich deine Vergeltung an ihnen sehen; denn ich habe dir meine Sache befohlen. Singet dem HERRN, rühmet den HERRN!
Herr, regiere du unser Hören und Reden durch deinen Heiligen Geist. Amen.
Was wir hier hören, ist mehr als Last. In den Worten Jeremias klingt pure Verzweiflung. Zerrissen zwischen dem, was er will und was Gott für ihn will, schreit er seine Klage heraus! Er macht Gott Vorwürfe, weil er keinen Erfolg in seiner Predigt sieht. Er zweifelt an seiner Berufung und kann doch nicht anders, als an ihr festhalten.
Ganz schön heftig ist das.
Wir hören diesen Text mitten in der Passionszeit. „Passion“ bedeutet „Leiden“. Der heutige Predigttext bietet Gelegenheit, die Leiden eines Propheten zu bedenken, sich die Person des Jeremia einmal genauer anzuschauen.
Jeremia wurde um das Jahr 650 v. Chr. in Anatot geboren. In der Bibel lesen wir, dass er Sohn des Priesters Hiskia war, über den aber nichts weiter erzählt wird. Als junger Mann wird Jeremia zum Propheten berufen. Schon von Beginn an plagen ihn Zweifel, ob er denn der richtige ist, um in Gottes Auftrag zu predigen. Das, was er zu sagen hat, passt vielen nicht, kommt nicht gut an. Er prangert soziale Ungerechtigkeiten an, wettert gegen gesamtgesellschaftliche Korruption und gegen die Praxis der Herrschenden in Jerusalem, den Tempel und die Religion für machtpolitische Zwecke einzusetzen. „Kehrt um zu Gott! Kommt zur Besinnung!“, so hören wir Jeremia immer wieder rufen.
Jeremia kommt nicht ungeschoren davon. Er wird bespitzelt und verfolgt. Sogar Mitglieder aus der eigenen Familie misstrauen ihm. Schließlich wird er in den Block gelegt, gefoltert und entgeht nur knapp dem Tod. Er fürchtet um sein Leben. Seine Berufung, sein Auftrag, Gottes Wort zu verkündigen, kostet ihn fast das Leben.
Was tun? Jeremias Verzweiflung kommt in den so genannten Konfessionen zum Ausdruck. Es sind niedergeschriebene Klagen, viele in Gedichtform, die in den Kapiteln 11 bis 20 im Jeremiabuch zu finden sind. Am Ende dieser Konfessionen findet sich der heutige Predigttext.
Jeremia schreit nach Gott. Er ruft den HERRn an in seiner Not und spart nicht mit Vorwürfen. Seine Verkündigung scheint so sinnlos! Wer hört ihn denn schon und was hat sich geändert? Nichts! Die Menschen kehren nicht um, alles wird nur noch schlimmer. Wo ist Gott? Warum sieht er zu?
Jeremia will Rache: Lass mich deine Vergeltung an ihnen sehen! So fordert er Gott heraus. Innerlich zerrissen zwischen Glaube und verzweifelter Verunsicherung wendet sich der Prophet an den einzigen, von dem er sich nicht verlassen fühlt: an Gott. Er ist trotz allem der „starke Held“, so bezeichnet ihn Jeremia, der ihn nicht fallen lassen wird. Sein Wort brennt in Jeremia wie Feuer. Und so endet die Passage mit der Aufforderung: „Singet dem Herrn, lobet den Herrn!“
Der „liebe Gott“ erscheint hier in einem anderen Licht. „Lieb“ ist nicht das Wesensmerkmal Gottes, was diesen Text ausmacht. Gottes Auftrag an Jeremia ist schwierig, eigentlich unmöglich. Gut 350 Jahre später fleht Jesus im Garten Gethsemane seinen himmlischen Vater an, dass dieser Kelch an ihm vorbeigehen möge. Beide geben sich ganz in Gottes Hand.
Welche Wege Gott mit uns geht, erschließt sich oft nicht. Wie oft bete ich um den „rechten Weg“, den Gott mir zeigen soll und wundere mich dann das ein über andere Mal über die Strecken, die ich gegangen bin. Manchmal bleibt auch im Rückblick nur Unverständnis, warum ich das durchmachen musste. Hat der „liebe Gott“ in diesem Moment nicht hingeguckt? Unsere Zweifel, unsere Verzweiflung und Not sind Gefühle, die Gott nicht fremd sind. Genauso wie bei Jeremia ist die Klage eine legitime Form des Gebets. Warum muss das alles sein? Wieso greift Gott nicht ein?
Jeremia erfährt, dass er – trotz allem – Gott singen und ihn loben kann. Was für eine Erfahrung! Hier spüren wir das Feuer für Gottes Wort, das trotz aller Bedrohung und Anfechtung in ihm brennt. Es ist nicht verloschen.
Dieses Brennen für Gottes Wort braucht es auch heute, wenn das Evangelium die Menschen erreichen soll. Manchmal kann ich Jeremias Verzweiflung – natürlich in sehr abgeschwächter Form – nachvollziehen. So viele Menschen wollen von Gott nichts wissen, belächeln die Kirche als etwas von vorgestern. Abgeklärt und vermeintlich aufgeklärt wird der Glaube als etwas für naive Gemüter abgetan. Doch auch innerhalb der Kirche ist es manchmal zum Verzweifeln: Es gibt viele Unsicherheiten, was die Zukunft betrifft. Bei allem scheint eines klar zu sein: Wir werden immer weniger Menschen, die zur Kirche gehören. Vieles, was wir gewohnt sind, was uns lieb und teuer ist, wird anders werden. Dabei ist das Klagen ist zur Routine geworden und bringt mich doch immer wieder zur Verzweiflung und zu der Frage: Was willst du eigentlich für deine Kirche, Gott?
Gleichzeitig brennt das Feuer in vielen, vielen Menschen. Dieses Feuer für das Wort Gottes stärkt und wärmt und schenkt Optimismus in Zeiten, wo vieles immer schlechter zu werden scheint. Denn – trotz allem – gibt es immer wieder hoffnungsvolle Aufbrüche:
- Menschen, die sich taufen lassen,
- Ehrenamtliche, die sich unaufhörlich für ihre Gemeinde engagieren,
- Neue Ideen, die umgesetzt werden, um zu zeigen: Kirche ist kein Museum!
- euch 13 Jugendliche, die gerade in die KonfiZeit gestartet sind, und wissen wollen, was es mit dem Glauben auf sich hat,
- und vor allem die starke Gemeinschaft, die uns im Glauben eint und trägt.
Die Zerrissenheit des Jeremia spiegelt unsere heutige Situation in vielen Gebieten wieder. Gott unser Leid zu klagen und gleichzeitig ihn zu loben ist kein Gegensatz. Gott ist bei uns und wird für uns sorgen, heute, morgen und über den Tod hinaus. Wie genau das aussehen wird, wissen wir nicht. Oder um es mit den Worten eines Kollegen von Jeremia, dem Propheten Jesaja zu sagen: „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und meine Wege sind nicht eure Wege, spricht der HERR“ (Jes 55,8).
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.