Predigt am Zweiten Advent über Jesaja 63,15ff. von Kerstin Strauch

So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Wo ist nun dein Eifer und deine Macht? Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich.

Bist du doch unser Vater; denn Abraham weiß von uns nichts, und Israel kennt uns nicht. Du, HERR, bist unser Vater; »Unser Erlöser«, das ist von alters her dein Name. […]

Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen,

wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht, dass dein Name kundwürde unter deinen Feinden und die Völker vor dir zittern müssten,

wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten – und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen! –

und das man von alters her nicht vernommen hat. Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohltut denen, die auf ihn harren.

[1. Gott ignoriert sein Volk – das ist hart]

Liebe Gemeinde!

„Siehst du eigentlich, Gott, was da gerade auf deiner Erde passiert? Schaust du genau hin oder schaust du nur zu und wunderst dich? Gott, warum spüre ich nichts davon, dass du es gut mit uns meinst? Du bist doch größer als unsere Vorstellung, weiter als unser Verstand und mächtiger als alle Mächte der Welt zusammen. Wir vertrauen darauf, du bist unser Erlöser.“

So oder so ähnlich, liebe Gemeinde, könnte der Verfasser des Textes aus dem Jesajabuch heute sprechen.  Unser Predigttext klingt fast wie Verse aus dem Psalter – ein Bitt- oder Klagepsalm. Bittere Worte der Klage kommen aus dem Munde Israels, das der Prophet Jesaja hier zu Wort kommen lässt. Sie fühlen sich von Gott im Stich gelassen, alleine; sie sind verzweifelt. Gott ignoriert sein Volk – das mag noch schlimmer sein als böse Worte oder Kritik.

Das kennen wir auch: Langsam hat sie sich eingeschlichen: die Sprachlosigkeit. Dabei war es doch einmal ganz anders gewesen! Viel hatten die beiden miteinander erlebt, waren „durch dick und dünn gegangen“. Aber irgendwann hatte jeder begonnen, nur noch sein eigenes Leben zu leben. Unstimmigkeiten waren immer häufiger aufgetaucht. Anfangs hatten sie noch miteinander gestritten. Als es nicht zur schnellen Einigung kam, waren sie geflohen: aus der Verantwortung, aus dem Konflikt, aus dem Gefühl für den anderen immer Kompromisse eingehen zu müssen. Nun war nur noch Sprachlosigkeit da. Wo es ging, versuchten sie die Begegnung zu vermeiden. Doch die Sprachlosigkeit und Ignoranz schmerzte mehr als jede verbale Auseinandersetzung.

Eine solche Geschichte hat auch das Volk Israel mit Gott durchgemacht. Gestritten hatten sie oft miteinander: bei jeder Berufung, bei jeder Veränderung, bei jeder Entbehrung. Immer wieder hatten sie einen Weg zueinander gefunden. Doch jetzt war der Anfang vom Ende da. Lange hatten sich die Menschen nicht mehr an Gott gewendet. Kein Lob, keine Klage, kein Dank war ihnen mehr über die Lippen gegangen. Einige hatten sogar vergessen, dass es Gott überhaupt gibt. Nun hat sich ein großes Schweigen breit gemacht. Niemand hat sich mehr etwas zu sagen. Und doch, einer erhebt ein letztes Mal seine Stimme. In letzter Verzweiflung ruft er zu Gott: So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Wo ist nun dein Eifer und deine Macht? Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich.

Israel fühlt sich von Gott verlassen und aufgegeben. Die Menschen wurden zu großen Teilen verschleppt, das Heimatland zerstört, der Tempel vernichtet. Wo bist du, Gott? Wie kann das sein, wenn du so mächtig bist, dass uns so viel Leid geschieht?

Gott scheint manchmal weit weg zu sein, scheint zu schweigen angesichts so viel Leid in der Welt und so viel Leid, das wir persönlich erleben.

Wie viele Gebete bleiben unerhört? Gebete um Heilung einer schlimmen Krankheit, Gebete um Heilung einer kriselnden Beziehung, Gebete um Erhalt des Arbeitsplatzes …

Wo bist du, Gott?

Unser Glaube vertraut auf Gottes Liebe und Barmherzigkeit. Dieser Satz ist für uns wahr, doch gerade deshalb schmerzt es so sehr, wenn wir das Gefühl haben, Gott ignoriere uns und das Leid dieser Welt. Das trifft uns hart, härter als vieles andere.

Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich. So drückt es der Prophet Jesaja aus. Gott lässt auf seine Barmherzigkeit warten. Und das ist hart.

[2. Das Volk ignorierte seinen Gott – und kämpft jetzt mit den Folgen]

Unweigerlich bohren sich Fragen in unsern Kopf: Warum? Warum ich? Warum passiert das mir? Warum tut Gott mir das an?

Menschen haben zu allen Zeiten diese Fragen gestellt und nach Antworten gesucht.

Im Buch Hiob hören wir, dass Hiobs Leid durch eine Versuchung ausgelöst wird. Gott will sehen, wie weit er mit Hiob gehen kann, ob sein Glaube stärker ist als alles andere. Für das Leid selber gibt es keine ursächliche Begründung. Hiob ist der leidende Gerechte.

Gerecht ist Israel nicht immer gewesen. Da gibt es schon den einen oder anderen dunklen Fleck in der Geschichte der Menschen mit Gott. Oft genug haben sie Gott ignoriert, seinen Willen missachtet, ja ihn sogar vergessen. Besonders als es ihnen gut ging, sie in Sicherheit und Wohlstand leben, haben sie nicht mehr an Gott gedacht. Sie haben geschwiegen, sie haben ihn ignoriert – sie haben geglaubt, sie bräuchten ihn nicht mehr.

Nun fühlen sie sich von Gott verlassen. Im Jesajabuch wird beschrieben, dass Gott sie aufgrund ihres Fehlverhaltens verlassen hat. Und so traf sie das Schicksal der Verfolgung, des Krieges und der Zerstörung.

Ich glaube nicht, dass der Zusammenhang zwischen eigenem Tun und dem erleidendem Schicksal so direkt besteht, wie man das aus dem Prophetenbuch herauslesen könnte. Das will Jesaja mit seinen Zeilen überhaupt nicht sagen. Vielmehr meint er damit: Wer sein Leben ohne Gott plant, wer in seinem Leben kein Platz für Gott und seinen Willen hat, wer meint, alles alleine machen zu können, der irrt gewaltig. Wenn Menschen sich nur auf sich selbst verlassen, dann sind sie verlassen. Wer ohne Beziehungen leben möchte, wer nur schweigen will und mit niemanden reden, sich nicht auf andere Menschen oder auf Gott einlassen kann, der bleibt alleine. Der Mensch ist aber ein Beziehungswesen. Ohne Beziehungen geht der Mensch zu Grunde. Und ohne Gott geht das Gottesvolk zu Grunde. Sie brauchen ihn, damit ihr Leben, ihre Beziehungen gelingen können.

Anders gesagt: Dort, wo Krieg, Hass, Neid und Zorn die beherrschenden Elemente sind, da kann Gott nicht dabei sein.

Und dort, wo wir versuchen, Gottes Willen zu folgen, da kann Heilung, Versöhnung, Frieden werden.

[3. Das Volk erinnert sich – Gott ist der Erlöser!]

„Not lehrt Beten.“ heißt ein altes Sprichwort. Immer wenn das Leben uns besonders hart trifft, wenn Katastrophen sich ereignen und die Welt einen Moment lang aus den Fugen gerät, suchen Menschen halt im Gebet. Sie erinnern sich daran, dass Gottes Macht größer ist als alle menschlichen Möglichkeiten. Sie vertrauen auf seine Kraft und Fähigkeit, Menschen zu erlösen.

So erinnert sich auch Israel daran: Du, HERR, bist unser Vater; »Unser Erlöser«, das ist von alters her dein Name.

Gott war immer für sein Volk da, hat sie aus der Sklaverei geführt, sie in der Wüste begleitet und bewahrt, hat ihnen ein neues Land gegeben, in dem sie leben konnten, hat sie vor Feinden bewahrt, hat sie sicher leben lassen in ihrem fruchtbaren Land. Gott hat sich schon oft in der Geschichte als der erwiesen, der sein Volk erlöst. Darauf vertrauen die Israeliten nun wieder neu. Sie erinnern sich ihrer Geschichte und ziehen daraus Hoffnung für die Zukunft.

„Erlösen“ – in diesem Wort steckt ursprünglich die Bedeutung „einen Sklaven auslösen“. Erlösen meint in diesem Horizont: Gott hilft uns aus Strukturen heraus, die uns zu Knechten machen. Er führt uns in die Freiheit. „Wo der Geist Gottes weht, da ist Freiheit“, sagt der Apostel Paulus. Gott ist imstande, uns aus verhärteten Beziehungen, aus belastenden Strukturen, aus Demütigungen und Anfeindungen herauszuholen. Wenn wir mit unseren Möglichkeiten am Ende sind, fangen Gottes Möglichkeiten erst an. Er hilft uns beim ersten Schritt in Richtung Veränderung, die uns gut tut. Gott will nicht, dass wir leiden. Wir sind seine geliebten Geschöpfe. Unser Leben soll gelingen.

Das heißt aber auch: Wir können nicht alles aus uns heraus schaffen. Wir brauchen andere Menschen, wir brauchen Gottes Beistand, wir brauchen Beziehungen, damit das Leben gelingen kann. Wie sehr wir diese gesunden Beziehungen brauchen, merken wir, wenn diese Beziehungen nicht mehr funktionieren.

[4. Wir fühlen uns von Gott manchmal verlassen]

Obwohl wir das alles wissen, kommt es immer wieder vor, dass sich Menschen von Gott verlassen fühlen:

Wo ist Gott denn nun in diesem Moment, in dem die Beziehung kaputt geht?

Wo ist Gott, wenn mein Leben aus den Fugen gerät?

Wo ist Gott, wo alles, was mir wichtig war, auf einmal wegbricht?

Eines ist sicher: Gott kennt diese Situation nur zu genau, er selbst hat sie durchlitten.

Sein Sohn war von allen verlassen – am Kreuz auf Golgatha.

Jesus starb alleine, hatte keine Fürsprecher unter dem Kreuz mehr, die für ihn gestritten hätten. Selbst von Gott fühlte er sich verlassen, in dem Moment, wo er die Worte des 22. Psalms betet: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Gott hat seinen Sohn auf die Welt geschickt, ganz klein und winzig im Stall von Bethlehem. Gott kommt auf die Welt, Gott wird Mensch, Gott kommt – darauf bereiten wir uns im Advent vor. Denn nichts anderes als Ankunft bedeutet das Wort Advent. Gott kommt, um die Welt zu erlösen, um sie zu befreien aus allen Tod bringenden und versklavenden Strukturen dieser Welt.

Aber er kommt nicht mit Feuersglut, auch bringt er keine Berge zum Zerfließen oder Meere zum Sieden. Als verletzliches Kind in der Krippe begegnet er uns. Jesus begegnet uns von Angesicht zu Angesicht, fühlt den Schmerz und das Leid am eigenen Leibe. Gott ist uns ganz nahe. Er verlässt uns nicht.

Diese Erfahrung spiegelt eine berühmte kleine Geschichte, die ich Ihnen zum Ende in Erinnerung rufen möchte: Ein Mann hatte eines Nachts einen Traum. Er träumte, dass er mit Gott am Strand entlang spazieren ging. Am Himmel zogen Szenen aus seinem Leben vorbei, und für jede Szene waren Spuren im Sand zu sehen.

Als er auf die Fußspuren im Sand zurückblickte, sah er, dass manchmal nur eine da war. Er bemerkte weiter, dass dies zu Zeiten größter Not und Traurigkeit in seinem Leben so war. Deshalb fragte er den Herrn: „Herr, ich habe bemerkt, dass zu den traurigsten Zeiten meines Lebens nur eine Fußspur zu sehen ist. Du hast aber versprochen, stets bei mir zu sein. Ich verstehe nicht, warum du mich da, wo ich dich am nötigsten brauchte, allein gelassen hast.“

Da antwortete ihm der Herr: „Mein liebes, teures Kind. Ich liebe dich und würde dich niemals verlassen. In den Tagen, wo du am meisten gelitten hast und mich am nötigsten brauchtest, da, wo du nur die eine Fußspur siehst, das war an den Tagen, wo ich dich getragen habe.“

Mit dieser Erfahrung im Rücken können wir einstimmen in den Lob des Propheten Jesaja, mit dem unser Predigttext und diese Predigt ganz positiv enden: Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohltut denen, die auf ihn harren.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserm Herrn. Amen.

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