Predigt zum 1. Weihnachtstag über 1. Johannes 3,1-2 von Kerstin Strauch

Liebe Gemeinde,

„So‘n schönes Weihnachtsfest hatte ich noch nie. Und ich hab überhaupt nichts mehr dagegen, Lord Fauntleroy zu sein. Und der künftige Earl von Dorincourt. Frohe Weihnachten wünsche ich ihnen allen! Und allen Menschen überall! Frohes, gesegnetes Fest!“

Mit diesen Worten endet der Film „Der kleine Lord“. Ein wirkliches Happy End ist das, herrlich, alle Jahre wieder sehe ich mir das gerne an.

Die Geschichte ist schnell erzählt: Der kleine Cedric lebt mit seiner verwitweten Mutter und der Hebamme Mary in einem Arbeiterviertel von New York City. Obwohl die Familie in sehr einfachen Verhältnissen leben muss, hat Cedric eine glückliche Kindheit. Seine besten Freunde sind der Gemischtwarenhändler Mr. Hobbs und der Schuhputzer Dick. Eines Tages erhalten Cedric und seine Mutter die Nachricht, dass sein englischer Großvater, der Earl von Dorincourt, wünscht, seinen einzigen Nachfolger kennenzulernen. Dieser Nachfolger ist Cedric, sein Enkel. So machen sich die Mutter und Cedric zusammen mit Mary auf die Schiffsreise nach England.

Der Earl ist ein alles andere als freundlicher Mann. Herzlos und streng ist seine Regentschaft. Man fürchtet ihn im Ort als alten Griesgram. Der Earl, der seinem Sohn nie verziehen hat, dass er eine Amerikanerin heiratete, besteht darauf, dass Cedric bei ihm im Schloss wohnt. Seine Schwiegertochter muss mit Mary ein kleines Cottage beziehen. Cedric weiß von all den Zerwürfnissen nichts, da seine Mutter diese Konflikte von ihm fernhält.

So begegnet er seinem Großvater von Anfang an mit großer Freundlichkeit und Offenheit. Der alte Earl ist bald ganz verrückt nach seinem Enkel. Nach und nach beginnt er sich komplett zu ändern.

Beim Kleinen Lord sehen wir die Dinge durch die Augen des achtjährigen Cedric. Wir tauchen ein in seine kindliche Welt, die frei ist von bösen Hintergedanken, vorgegebenen Konventionen oder Standesdünkel.

Die Welt durch Kinderaugen sehen, darum geht es auch in einem kurzen Text aus dem 1. Johannesbrief. Ich lese aus dem 3. Kapitel den Predigttext für diesen ersten Weihnachtstag (VV. 1-2):

Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch! Darum erkennt uns die Welt nicht; denn sie hat ihn nicht erkannt. Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen: Wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist.

Die Geburt eines Kindes steht im Mittelpunkt des Christfestes. Der Sohn Gottes wird geboren. „Abba, lieber Vater“, so wird Jesus ihn später anreden. Indem Gott selber Mensch wird, wird er einer von uns. Daher können wir Jesus auch als unseren Bruder bezeichnen. Nach seiner Familie gefragt antwortete Jesus einmal, dass alle, die ihm folgen, seine Brüder und Schwestern sind. Wir alle gehören zur Familie, wir sind Gottes Kinder, Jesu Geschwister.

Und so sehen wir die Welt durch andere Augen, durch die Augen Jesu, durch die Augen des Kindes, das da in der Nacht in Bethlehem zur Welt kam. Wir sehen Schmutz und Armut, Einsamkeit und Bedrohung. Wer genauer hinsieht, erkennt vielmehr: Wir sehen die Hirten, den Glanz, der auf ihren Gesichtern liegt, wir sehen das Vertrauen und den Glauben, dass alles gut geht.

Der kleine Lord sah in seinem Großvater nicht den verbitterten, unfreundlichen Alten. Er sah einfach seinen Großvater und stellte nie in Frage, dass dieser Großvater ihn, Cedric, von Herzen lieben würde.

Er überrascht den Earl mit Sätzen wie „Jeder Mensch sollte mit seinem Leben die Welt ein ganz klein wenig besser machen.“ Daraufhin erfährt ein Schuldner Hilfe, das Dorf der Arbeiter wird renoviert, und der Earl resümiert: „Wenn du Earl sein wirst, sei verantwortungsvoller, als ich es gewesen bin.“

Wer die Welt versucht so wie Cedric zu sehen, erkennt mehr. Der Schreiber des 1. Johannesbriefes benutzt die Worte „erkennen“ und „offenbar werden“. Damit ist gemeint, dass es oft ein genaueres Sehen braucht. Vielleicht sind gerade die kommenden Tage dafür gut geeignet, diesen Blick zu üben, den Blick einer Tochter oder eines Sohnes Gottes:

Ich halte inne und betrachte, was mich beschäftigt. Was denke ich?

Jetzt lenke ich meine Gedanken bewusst auf die Liebe. Wenn die Liebe das Wichtigste ist, wie sieht es dann für mich aus?

Kann ich es in einem anderen Licht betrachten?

Gibt es eine neue Chance?

Was will ich verändern?

Wer die Welt durch Kinderaugen sieht, der gibt der Liebe Raum. Denn Kinder sind auf Liebe angewiesen – vom ersten Moment an. Ohne Liebe kann niemand überleben. Damit wir überleben hat Gott uns zu seinen Kindern ernannt. Wir dürfen Gottes Kinder heißen. Und wie Kinder nach und nach lernen, sich im Leben zurechtzufinden, so auch wir. Wir folgen den Spuren Jesu, die da anfingen in dieser Heiligen Nacht, folgen ihnen bis heute. Dann wird sich eine neue Welt auftun, die vielleicht so sein wird wie Weihnachten auf Schloss Dorincourt. Da ist die strenge Sitzordnung aufgehoben, da sitzen hohe Herrschaften und Untergebene Seite an Seite. Leute, die sich noch in der letzten Woche in Nürnberg, Trier oder Wuppertal auf Demos und Gegendemos gegenüber gestanden und angebrüllt haben, prosten sich zu. Abendspaziergänge in Pirmasens sind wieder erholsame Wanderungen durch den Pfälzer Wald. Der Vermieter, der Anfang des Monats der Familie in der Zweibrücker Straße mit einer Räumungsklage gedroht hat, teilt sich mit der jüngsten Tochter den letzten Nachtisch. Und unter einem Mistelzweig gucken sich Friede und Gerechtigkeit tief in die Augen.

Wir wissen: Wenn es offenbar wird, werden wir Jesus gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist. Heute, an Weihnachten, sehen wir ihn: das Kind in der Krippe. Lassen wir ihn nicht mehr aus den Augen. Dann wird unsere Welt ein Stück heller und freundlicher und unser Herz leichter werden.

Amen.

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