Predigt zum Ewigkeitssonntag über Daniel 12,1-3b von Kerstin Strauch

Er bedeckt alles. Überall. Auf dem Nachtschränkchen liegt noch das Buch, das er zuletzt gelesen hatte. Und seine Brille. Die Unterlagen auf dem Schreibtisch liegen auch noch so da, wie er sie zurückgelassen hatte. Die unsortierten Papiere, handschriftliche Notizen. Wer das aufräumen, wegräumen will, zerstört das Letzte, was noch da ist. Und so legt er sich darüber und bleibt. Der Staub.

Die Seite des Bettes scheint unberührt. Es riecht nach frischem Waschmittel. Ab und zu muss das Bett frisch bezogen werden, auch wenn es unbenutzt bleibt. Aber der Staub macht es nötig. Er setzt sich überall fest.

Wer einen Abschied zu verkraften hatte, den Tod eines Menschen, aber auch einen der anderen Abschiede des Lebens, wie eine Trennung, weiß das. Nichts ist mehr so wie vorher.

So legt sich der Staub auch auf unsere Seele. Wie ein dicker, grauer Schleier liegt er da und nimmt einem fast die Luft zum Atmen. Der Staub lässt sich nicht so einfach abschütteln und manchmal versinken wir ganz tief darin. Man meint fast, daran zu ersticken. Das ist so am Anfang der Trauer.

Alle, die das schon einmal miterleben mussten, kennen das auch: Irgendwann wird die Staubschicht feiner. Nicht mehr alles ist von diesem Staub aus Traurigkeit und Schmerz bedeckt. Es gibt helle Momente und doch mattiert der Staub nach wie vor unsere Seele. Es wird leichter, ihn fortzuwischen für den Moment, leichter mit ihm zu leben, aber ganz verschwinden wird er nie.

Es ist gut, wenn Menschen zusammenkommen, die diese Erfahrung kennen und nicht nur die Hochglanzmomente des Lebens. Es ist gut, nicht das polieren zu müssen, was sich gar nicht polieren lässt. Stattdessen erkennen wir an Tagen wie heute: Es gibt ganz viele, denen geht es genauso. Die kennen diesen Staub auf der Seele. Heute ist ein Tag, an dem wir das nicht verstecken müssen. Wir haben die Namen derer gehört, von denen wir in diesem Jahr Abschied nehmen mussten. Am Ewigkeitssonntag ist Raum für Schmerz und Abschied, aber auch für Hoffnung. Dafür hat der Prophet Daniel Worte gefunden.

Denn es wird eine Zeit so großer Trübsal sein,

wie sie nie gewesen ist, seitdem es Menschen gibt, bis zu jener Zeit.

Aber zu jener Zeit wird dein Volk errettet werden,

alle, die im Buch geschrieben stehen.

Und viele, die unter der Erde schlafen liegen, werden aufwachen,

die einen zum ewigen Leben, die andern zu ewiger Schmach und Schande.

Und die da lehren, werden leuchten wie des Himmels Glanz,

und die viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich.

Was bleibt von den Toten? Manchmal lese ich den Spruch: Er ist gestorben, aber lebendig in unseren Herzen. Oder: Sie ist tot, doch die Erinnerung lebt. Für eine Zeit werden Grabsteine den Namen tragen. Wir werden uns erinnern, in Erzählungen und Gedanken. Doch irgendwann werden auch wir nicht mehr sein und die Gräber eingeebnet. Ganz zu schweigen von denen, um die niemand trauert oder die kein Grab haben.

Tröstlich ist, was wir im Buch Daniel hören. Tröstlich für alle, die an Gräbern stehen oder sich tagtäglich an ihre Verstorbenen erinnern. Sie sind nicht vergessen. Wo aber sind unsere Toten?

Sie sind eingeschrieben in einem Buch, sagen die Worte. Einer hat sie sich aufgeschrieben, jeden einzelnen, jede einzelne. Ihre Namen bleiben, auch wenn sie keiner mehr nennt. Ihre Namen bleiben, wenn der Stein abgeräumt ist und wenn die Stimme, die sie noch nennen könnte, selbst schweigt. Ein Trost für uns und für alle, die trauern. Ein Trost auch angesichts all der namenlosen Trauer in unserer Welt. Die vielen Toten, deren Namen keiner nennen kann, die vielen, die nicht einmal ein Grab bekommen haben, die nicht mehr zu finden sind unter uns. Sie sind es ja, die oft am schmerzlichsten vermisst und gesucht werden.

Sie alle sind aufgeschrieben, sie haben einen Namen bei dem, der uns geschaffen hat und uns ins Leben ruft. Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein! (Jes 43,1b) Gott vergisst niemanden. Er kennt uns von der ersten Sekunde unseres Lebens. Er ruft uns und nichts und niemand kann uns von ihm trennen. Noch nicht einmal der Tod.

Die Antwort auf die Frage nach unserem Woher ist auch die Antwort auf die Frage nach unserem Wohin. Wo sind unsere Toten? Sie schlafen unter der Erde. Nicht nur ein Bild, das Schrecken auslöst angesichts unserer Vergänglichkeit, sondern auch ein Bild der Geborgenheit. Sie schlafen, unsere Toten, sie wohnen im Land des Staubes, wie es im hebräischen Bibeltext heißt. Sie schlafen und wohnen, nicht mehr bei uns, nicht mehr in der anderen Hälfte des Bettes und in den Räumen, die sie bewohnt haben, sondern in Erde und Staub. Sie sind nicht mehr in unserer Nähe, aber sie sind wieder in der Nähe dessen, der sie gemacht hat, der sie sieht und bei ihrem Namen nennt. Sie schlafen und sie wohnen dort.

Und sie werden aufwachen, genauso wie auch Jesus auferweckt wurde. Sie werden nicht für immer im Dunkeln der Erde, im Staub bleiben. Sie werden – wie wir alle – zu neuem Leben erwachen. Aus dem Staub, zu dem wir werden und aus dem wir gekommen sind, wird Gott uns wieder erwecken. Das ist eine große Hoffnung für alle, die diesen Staub sehen, ihn fühlen und mit ihm leben.

Eine Hoffnung, an die ich mich halten möchte und die nicht gleich wieder getrübt sein soll von Unsicherheit und Angst. Die Rede vom Aufwachen der einen zum ewigen Leben und Aufwachen der anderen zur ewigen Schmach und Schande kann Angst machen. Aber das heißt nur: Wir bleiben, was wir sind. Wir werden, was wir waren. Nicht mehr und nicht weniger. Unser Leben ist keine Staubwolke, in der am Ende gar nichts mehr zu erkennen ist. Wir lösen uns nicht in ein Nichts auf, mit unseren Möglichkeiten und unseren Grenzen, sondern wir bleiben erkennbar, im Leben und im Tod, in dem, was wir getan und was wir gelassen haben.

Wir leben mit dem Staub auf unserer Seele. Aber wir wissen, dass Rettung da ist. Gott hat uns eingeschrieben in sein Buch des Lebens. Wir werden aufwachen. So leben wir auf Hoffnung hin.

Diese Hoffnung ist wie ein Tuch, dass den Staub von uns wegnimmt. Ganz vorsichtig und behutsam wischt Gott ab, was uns so bedrückt und erstickt. Langsam, geduldig, sorgfältig tut er das. So kehrt Glanz in unser Leben zurück – manchmal nur für einen Moment oder für immer. Wer das an sich selbst erfährt, kann es auch an andere weitergeben. Und so bringen sie den Glanz des Himmels auf unsere staubige Erde.

Amen.

(Vielen Dank an Pfarrerin Kathrin Oxen für die Anregungen!)

Schreibe einen Kommentar