Predigt am 1. Sonntag nach Trinitatis über Apostelgeschichte 4,32-37 von Volker Strauch

[I Der Traum von Gerechtigkeit.]

Wenn jeder hat, was er zum Leben braucht.

Wenn niemand zu wenig hat und niemand zu viel.

Der Traum von Gerechtigkeit.

Kennen Sie diesen Traum? [Pause]

Ich würde auf „Ja“ tippen. Ja, Sie kennen diesen Traum. Erzählt doch die Bibel an einigen Stellen davon. So, wie im heutigen Predigttext aus der Apostelgeschichte. Dort berichtet Lukas aus dem Leben der ersten Gemeinde:

Die Menge der Gläubigen aber war ein Herz und eine Seele; auch nicht einer sagte von seinen Gütern, dass sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemeinsam.

Und mit großer Kraft bezeugten die Apostel die Auferstehung des Herrn Jesus, und große Gnade war bei ihnen allen.

Es war auch keiner unter ihnen, der Mangel hatte; denn wer von ihnen Äcker oder Häuser besaß, verkaufte sie und brachte das Geld für das Verkaufte und legte es den Aposteln zu Füßen; und man gab einem jeden, was er nötig hatte.

Josef aber, der von den Aposteln Barnabas genannt wurde – das heißt übersetzt: Sohn des Trostes –, ein Levit, aus Zypern gebürtig,

der hatte einen Acker und verkaufte ihn und brachte das Geld und legte es den Aposteln zu Füßen.

Der Traum von Gerechtigkeit ist hier unter den ersten Christen ganz real geworden. Greifbare Wirklichkeit. Wer Grundstücke oder Immobilien hat, verkauft sie und gibt den Erlös weiter. So, dass alle etwas von dem Vermögen haben. So, dass die Armen nicht mehr arm sind.

Und die Reichen nicht mehr reich. So, dass alle haben, was sie zum Leben brauchen.

Niemand zu wenig und niemand zu viel. Der Traum von Gerechtigkeit ist hier spürbar geworden.

 

[II Der Traum von Gerechtigkeit]

Das war kein neuer Traum der ersten Christen. Es war ein alter Traum. Unter Gottes Volk war er schon so lange lebendig. Der Traum von Gerechtigkeit. Der Traum vom verheißenen Land, wo Milch und Honig fließt. Für alle. Wo jeder hat, was sie zum Leben braucht. Dieser Traum hat die Israeliten aus Ägypten getrieben. Er hat sie die Anstrengungen der Wüstenwanderung aushalten lassen. Als Manna ist dieser Traum unter ihnen Wirklichkeit geworden. Manna, Brot vom Himmel, das alle ernährt. Für jeden genug. Für keinen zu wenig und für niemand zu viel.

Dieser Traum war so lebendig unter dem Volk Israel. Sie haben ihn in ihren Texten niedergeschrieben. In ihren Geboten hat er seine Form gefunden. Etwa in dem Gebot, alle sieben Jahre ein Erlassjahr zu halten. Ein Jahr, in dem jeder jedem erlässt, was er ihm geborgt hat. Damit niemand arm bleibt. Der Traum von Gerechtigkeit. Er war so lebendig unter dem Volk Israel. Sie haben ihn niedergeschrieben in ihren Geboten, weil sie wussten: Das alles gehört nicht uns. Was wir haben, hat Gott uns geschenkt. Das Land, in dem wir leben. Das Land, das wir bebauen. Das Land, das uns ernährt – ist nicht unser Besitz. Es gehört Gott. Das Land ist sein Geschenk an uns.

 

[III Der Traum von Gerechtigkeit.]

Wenn jeder hat, was er zum Leben braucht. Wenn niemand zu wenig hat und niemand zu viel. Wenn keiner reich ist, und keine arm und jede gibt, was der andere braucht. Der Traum von Gerechtigkeit. Dieser Traum ist so wunderbar. Er ist so groß, dass er die Frage aufwirft: Sollte er jemals schon Wirklichkeit geworden sein? Oder hat ihn nicht doch immer ein Schatten getrübt?

Plätze, die Allgemeingut sind – sind die nicht meistens verdreckt? Weil niemand sich kümmert, weil niemand sich verantwortlich fühlt. Weil irgendwie auch wertlos ist, was einfach da ist und wofür man sich nicht anstrengen muss. Staaten, die es mit Kommunismus versucht haben – haben die nicht die Bevölkerung unterdrückt? Weil eben nie alle freiwillig geben. Weil es unterschiedliche Meinungen gibt, wann es denn genug zum Leben ist. Ab wann ich zu viel habe und der andere zu wenig. Weil das dann jemand festlegen muss und natürlich nicht alle dieser Festlegung zustimmen. Der Traum von Gerechtigkeit. – bleibt der nicht immer unerreichbar? Sollte er wirklich unter den ersten Christen lebendig gewesen sein? Aus lauter Liebe, aus lauter Glück. Ohne Druck oder Angst. Das klingt doch zu schön um wahr zu sein. Und es ist auch zu schön, um wahr zu sein. Die Geschichte geht nach dem Predigttext mit Hananias und Saphira weiter. Sie verkaufen auch ein Grundstück. Aber sie geben nicht den ganzen Erlös weiter. Trotzdem behaupten sie, das zu tun. Für diesen Betrug müssen sie beide sterben. Aus Liebe und Glück wird Furcht. Auch in der Bibel.

Der Traum von Gerechtigkeit, er ist so schnell dahin. Wie eine Seifenblase zerplatzt. Weil das mit dem Teilen aus lauter Liebe und Glück so zerbrechlich ist unter den Menschen. Weil der Traum immer wieder aufblitzt, schillernd und schön. Aber wie eine Seifenblase empfindlich.

 

[IV Der Traum von Gerechtigkeit.]

Der Traum von Gerechtigkeit.

Er bleibt der Widerspruch zu den jetzigen Zuständen. Er bleibt das laute Nein zu der Schere zwischen Arm und Reich. Er bleibt die Erinnerung daran, dass Gott das Leben will. Für jeden Menschen. Dass er für alle das Leben in Fülle will. Das jede hat, was sie braucht – und noch viel mehr. Er bleibt die Erinnerung, dass alles Vermögen wie Manna sein soll. Vermögen, das alle ernährt und allen Anteil am Leben gibt. Das nicht nur Mägen füllt, sondern jedem den Café-Besuch mit Freunden möglich macht. Vermögen wie Manna, von dem jede gibt, was der andere braucht. So dass Konzerttöne in jedem Ohr klingen, und Bildung für jeden möglich wird. Der Traum von Gerechtigkeit. Er bleibt der große Widerspruch. Die ständige Erinnerung: Es ist nicht alles gut. Weil manche reich sind, sind andere arm. Was man billig kaufen kann, stellen andere unter fürchterlichen Bedingungen her. Er bleibt der Augenöffner für diese unbequeme Wahrheit: Dass die Armut die Reichen reicher macht. Und der Reichtum die Armen ärmer.

 

[V Der Traum von Gerechtigkeit.]

Der Traum von Gerechtigkeit. Er bleibt der große Widerspruch, das laute Nein zu herrschendem Unrecht. Der Traum von Gerechtigkeit. Es ist dieser Traum, der sagt: Da ist noch mehr! Es ist dieser Traum, der verspricht: Leben für alle ist möglich, und zwar nicht nur Überleben für alle. Sondern Leben in Fülle für alle. Weil bei Gott Milch und Honig fließen. Für alle. Weil Jesus den Tod überwunden hat. Und mit dem Tod alles, was dem Leben schadet. Für alle. Weil Gottes Geist auch mich dazu befähigt, weil er mich dem Leben anderer dienen lässt, weil er mich mein Vermögen als Manna sehen lässt. Für alle. Es ist dieser Traum der mir sagt: Da ist noch mehr! Die Zukunft steht noch nicht fest. Du kannst sie gestalten.

Und das passiert an vielen Ecken und Enden. Da macht sich eine christliche Pfadfindergruppe auf den Weg, um den Platz am Wedebrunnen regelmäßig zu säubern. Nicht für sich selbst, sondern für andere. Und diejenigen, die für die Verschmutzungen mit verantwortlich sind, beobachten diese Aufräumaktionen zunächst etwas skeptisch aus einiger Entfernung. Aber beim vierten oder fünften Besuch fangen sie an, mitzumachen und aufzuräumen.

Vielleicht mag der Kommunismus als Staatsform nicht funktionieren, aber es gibt sie, Menschen mit großer Solidarität, die sich für die Schwachen und Benachteiligten einsetzen, nicht, weil sie sich davon Gewinne versprechen, sondern aus reiner Nächstenliebe.

Es gibt sie, die Menschen, die mit Worten und Taten und Gesten sich solidarisch zeigen mit Menschen, die unter Rassismus, Gewalt und Unterdrückung leiden und die deutlich machen: es geht auch anders! Da ist noch mehr! Die Zukunft steht noch nicht fest. Du kannst sie gestalten. Und ich will es versuchen. Weil ich Milch und Honig vor mir sehe und losgehe in das Land voller Leben.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.

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