Predigt am 4. Sonntag nach Trinitatis über Joh 8,3-11 von Kerstin Strauch

Liebe Gemeinde,

was ist Sünde? Diesen Begriff benutzen wir eigentlich nur in der Kirche. Ein großes und schweres Wort. Aber was verbirgt sich dahinter? Sünde heißt, Böses zu tun. Aber noch viel mehr. Ich stelle mir ein Bankkonto vor, auf das ich viele Geldschulden angehäuft habe. Ein dickes Minus steht vor dem Saldo. Sünde heißt, dieses Minus auf jemand anderes abzuwälzen. Der Theologe Eberhard Jüngel bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: „Sünde heißt, sich nicht beschenken zu lassen. Sünde heißt, sein Herz nicht zu öffnen.“

Zu was das führen kann, erzählt der heutige Predigttext. Er gehört sicher zu den bekanntesten Erzählungen über Jesu Wirken. Ich lese aus dem achten Kapitel des Johannesevangeliums:

Die Schriftgelehrten und Pharisäer brachten eine Frau, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte und sprachen zu [Jesus]: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. Mose aber hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du?

Das sagten sie aber, ihn zu versuchen, damit sie ihn verklagen könnten. Aber Jesus bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie nun fortfuhren, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. Als sie aber das hörten, gingen sie weg, einer nach dem andern, die Ältesten zuerst; und Jesus blieb allein mit der Frau, die in der Mitte stand. Jesus aber richtete sich auf und fragte sie: Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt? Sie antwortete: Niemand, Herr. Und Jesus sprach: So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.

Nicht weil sie böse sind oder von Natur aus einen schlechten Charakter haben, bringen die Menschen die Frau zu Jesus. Nein, sie sind voller Überzeugung, dass es Gottes Wille ist, dass diese Ehebrecherin gesteinigt wird. Die Schriftgelehrten und Pharisäer, Fachleute der jüdischen Gesetzesauslegung, sind sich sicher, dass die Frau nicht nur Schuld auf sich geladen hat, weil sie ihre Ehe zerstört hat, sondern weil sie durch ihre Tat noch zusätzlich bei Gott schuldig geworden ist. So lesen sie es in der Thora – was sie freilich nicht vorbringen ist, dass dort gleichsam der Ehebrecher bestraft werden soll. Dieser taucht in der Geschichte – aus welchem Grund auch immer – gar nicht erst auf. Es geht um die Frau, die „große Sünderin“ wie es als Überschrift in alten Bibeln zu lesen ist.

Die Menschen, die die Frau herbringen, wollen nicht ihre Sünde beenden, sondern die Schuldige demütigen. Darum geht es ihnen. Und dazu sagt Jesus Nein.

Das ist neu! Jesus lenkt die Aufmerksamkeit vom großen Gesetz des Mose auf das Gesetz im Herzen eines jeden Menschen. Wer keine Schuld hat, der soll ruhig das Gesetz erfüllen. Aus einer Gerichtsverhandlung, aus der alle nur als Verlierer hervorgehen würden, macht Jesus die Gemeinschaft der Schuldigen und Sünder.

„Wer ohne euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“ Diese Aufforderung Jesu ist fast sprichwörtlich geworden. Sie provoziert eine Frage an jeden von uns: Wen spreche ich schuldig? Welche Vorverurteilung treffe ich? Wie oft lenke ich von mir selbst ab?

Das beobachte ich bei unseren Kindern oft: Gibt es Streit, so fällt bei der Klärung ganz oft der Satz „Das war ich nicht!“ oder „Der Soundso hat aber zuerst …“. Viele von Ihnen werden das Phänomen kennen. Dabei geht es doch darum: In dem Moment, wo etwas schief läuft bei mir, will ich nicht in die Mitte gestellt werden. Ich habe Angst vor den Konsequenzen, also versuche ich, so gut es geht von mir abzulenken.

Das Ablenkungsmanöver wird von Jesus enttarnt. Zuvor hat er wie abwesend in den Sand gemalt. Was hat er da wohl gezeichnet oder geschrieben?

Ich stelle mir vor, dass er gerechnet hat. Im antiken Palästina benutzten Kaufleute oft den staubigen Sandboden, um ihre Rechnungen aufzuzeichnen, sich kurz Notizen zu machen. Jesus hat die Schulden der einzelnen Beteiligten aufgeschrieben und gegeneinander aufgerechnet. Danach kommt der berühmte Satz und ein großes Nachdenken setzt ein.

Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.

Die Strategie der Ankläger ist nicht aufgegangen. Weder wurde die Frau gesteinigt, noch Jesus überführt. Nichts haben sie in der Hand – nichts, aber auch keinen Stein. Denn ohne Sünde sind sie wahrlich nicht.

Jesus wendet sich der Frau zu, die bisher kein Wort gesagt hat. Sie versucht nicht, von sich abzulenken, sie bringt nichts zu ihrer Verteidigung vor. Sie ist die Schuldige. Jesus steht auf und schaut ihr ins Gesicht. Es geht um Ehrlichkeit. Es geht um die Wahrheit. „Hat dich niemand verdammt?“, fragt Jesus. „Niemand, Herr“, entgegnet sie ihm. Darauf Jesu Antwort: „So verdamme ich dich auch nicht. Geh hin und sündige ab jetzt nicht mehr.“

Darin höre ich: „Was die Schulden betrifft, die du bei mir hast, die erlasse ich dir. Und nun sieh zu, dass du deine anderen Gläubiger bezahlen kannst.“ So funktioniert Vergebung: Weil Gott uns vergibt, weil Jesus für unsere Sünden eingetreten ist, werden wir fähig, einander zu vergeben. Jesus, der viele Menschen geheilt hat, schafft hier die Voraussetzung dafür, dass viele Beziehungen heil werden können, weil Vergebung ermöglicht wird. Was das für die Beziehungen der Frau bedeutet hat, wissen wir nicht. Die Begegnung mit Jesus wird sie verändert haben. Sie hatte Todesangst als sie in der Mitte all der tobenden Männer stand. Jesus eröffnet ihr neues Leben und den Anklägern eine neue Perspektive auf ihr eigenes Tun.

So erzählt diese Geschichte, was es heißt, was wir in jedem Gottesdienst bekennen: Vergebung der Sünden.

Wenn wir unser Herz für Gott öffnen, erfahren wir, was Barmherzigkeit heißt. Dann können wir uns und andere in einem anderen Licht sehen, in einem Licht, das von Liebe und nicht von Gewalt bestimmt wird. Wie diese Erfahrung sich im Alltag widerspiegelt und dennoch lebensverändernde Wirkung haben kann, erzählt folgende kurze biographische Erinnerung der schwedischen Kinderbuchautorin Astrid Lindgren:

Sie war eine junge Mutter zu der Zeit, als man noch an den Bibelspruch glaubte, dieses „Wer die Rute schont, verdirbt den Knaben.“ Im Grunde ihres Herzens glaube sie wohl gar nicht daran, aber eines Tages hatte ihr kleiner Sohn etwas getan, wofür er ihrer Meinung nach eine Tracht Prügel verdient hatte, die erste in seinem Leben. Sie trug ihm auf, in den Garten zu gehen und selber nach einem Stock zu suchen, den er ihr dann bringen sollte. Der kleine Junge ging und blieb lange fort. Schließlich kam er weinend zurück und sagte: „Ich habe keinen Stock finden können, aber hier hast du einen Stein, den kannst du ja nach mir werfen.“ Da aber fing auch die Mutter an zu weinen, denn plötzlich sah sie alles in den Augen des Kindes. Das Kind musste gedacht haben, „meine Mutter will mir wirklich weh tun, und das kann sie ja auch mit einem Stein“ Sie nahm ihren kleinen Sohn in die Arme, und  sie weinten eine Weile gemeinsam. Dann legte sie den Stein auf ein Bord in der Küche, und dort blieb er liegen als ständige Mahnung.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.

Schreibe einen Kommentar