Predigt am Sonntag Misericordias Domini über Hesekiel 34,1-16+31 von Kerstin Strauch

Der Predigttext für diesen Sonntag handelt – wie könnte es anders sein – vom Hirten. Wir hören, was der Prophet Hesekiel über Hirten schreibt. Ich lese aus dem 34. Kapitel:

Und des Herrn Wort geschah zu mir: Du Menschenkind, weissage gegen die Hirten Israels, weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der Herr:

Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden?

Siehe, ich will an die Hirten und will meine Herde von ihren Händen fordern; ich will ein Ende damit machen, dass sie Hirten sind, und sie sollen sich nicht mehr selbst weiden. Ich will meine Schafe erretten aus ihrem Rachen, dass sie sie nicht mehr fressen sollen.

Denn so spricht Gott der Herr: Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen. Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, so will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Orten, wohin sie zerstreut waren zur Zeit, als es trüb und finster war. Ich will sie aus den Völkern herausführen und aus den Ländern sammeln und will sie in ihr Land bringen und will sie weiden auf den Bergen Israels, in den Tälern und wo immer sie wohnen im Lande. Ich will sie auf die beste Weide führen, und auf den hohen Bergen in Israel sollen ihre Auen sein; da werden sie auf guten Auen lagern und fette Weide haben auf den Bergen Israels. Ich selbst will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der Herr.  Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist.

Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott der Herr.

Selig sind, die Gottes Wort hören und es bewahren. Amen.

 

Liebe Gemeinde,

„Vorsicht! Bissiger Hund!“ Das gelbe Schild prangt unübersehbar an der Gartenpforte. Ringsherum ein Zaun. Wer hier wohl wohnt?

Einer, der sich gegen ungebetene Eindringlinge wehren will.

Oder einer, der einfach nur abschrecken will?

Oder jemand, der das Schild von seinen Nachbarn geschenkt bekommen hat als Gag? Denn der Hund des Grundstücksbesitzers ist eine alte Pudeldame und längst kein bissiger Wachhund?

Vielleicht auch genau andersherum: Hier wohnt ein Hunde-Besitzer, der sein Tier bewusst abgerichtet hat auf alles, was ihm unliebsam ist. Wer weiß?

„Vorsicht! Bissiger Hund!“ Welche Gedanken gehen Ihnen da durch den Kopf?

Ich drücke vorsichtig den Klingelknopf. Abwarten. Kein Bellen. Ein Klicken an der Gartenpforte zeigt mir an, dass ich sie jetzt öffnen kann. Zugegeben – mit einer gewissen Anspannung betrete ich das Grundstück. Wo ist der Hund? Bisher habe ich keine schlechten Erfahrungen mit Hunden gemacht, habe keine Angst vor Hunden, aber einen gewissen Respekt vor unbekannten Hunden schon.

Dann öffnet sich die Haustür. Ein Hund lugt hinter dem Paar hervor, das in der Tür steht. Sieht ganz und gar nicht gefährlich aus. Aufatmen.

„Vorsicht! Bissiger Hund!“ So ein Schild löst etwas aus. Ich öffne gedankliche Schubladen. In welche passt der Mensch, der hier wohnt, und sein tierischer Mitbewohner? Gar nicht so einfach zu sagen.

Versuchen wir es mit einem anderen Bild, dem Bild des Hirten. Darum soll es ja heute gehen.

Der Hirte – das ist ein schönes Bild. Fürsorglich, beschützend, verantwortungs- und liebevoll, naturverbunden, so stelle ich mir den idealen Hirten vor. Das ist die Schublade, die sich öffnet, wenn ich an einen Hirten denke. Ein Hirte ist einer, dessen Hauptaufgabe darin besteht, sich um andere, nämlich um seine Herde zu kümmern.

Was aber, wenn er es nicht tut? Der Prophet Hesekiel hat genau das im Blick. Als Prophet spricht er aus, was Gott ihm sagt. Und das sind erstmal keine guten Worte. Denn es gibt keine guten Hirten. Die Hirten weiden sich selbst!

Was ist mit den Schafen? Deren Zustand lässt sich in drei Worten beschreiben: verloren, verwirrt, verwundet. So ist der Zustand der Herde.

Menschen landen zu Hunderten an Küsten irgendwo im Mittelmeer an. Auch jetzt, in diesen Tagen. Oder sie stehen schon seit Monaten, wenn nicht Jahren an den Zäunen der Flüchtlingslagern dieser Welt. Verloren, verwirrt, verwundet.

Überall auf der Welt werden Männer, Frauen und Kinder ausgebeutet. Arbeiten unter menschenunwürdigen Bedingungen, oft nur, um das Geld für einen Tag zum Überleben zu sichern. Verloren, verwirrt, verwundet.

In dieser Woche haben wir erfahren, dass die NATO und allen voran die US-amerikanischen Truppen sich nach 20 Jahren aus Afghanistan zurückziehen werden. Tausende haben ihr Leben dort verloren, sind verletzt und traumatisiert. An Frieden ist nicht zu denken. Aber eines ist klar geworden: Kein Frieden lässt sich mit Waffengewalt erzwingen. Verloren, verwirrt, verwundet.

Überall leiden Menschen unter der Pandemie. Seit mehr als einem Jahr schon. Wir werden gleich im Fürbittengebet an die Toten der Pandemie erinnern. Die Fahnen stehen an diesem Wochenende auf Halbmast. Die Politik zeigt sich zunehmend ratlos. Die Unzufriedenheit nimmt zu. Jede Entscheidung ruft Gegner auf den Plan. Tag für Tag sterben Menschen. Die Intensivstationen werden voller und voller. In anderen Ländern sind die Zustände noch viel schlimmer. Verloren, verwirrt, verwundet.

Jeder einzelne von uns ist Teil einer Herde. Niemand existiert nur für sich. Bist auch du verloren, verwirrt, verwundet?

Hirten, die sich selbst weiden, gibt es mehr als genug. Sie helfen nicht weiter. Bei Hesekiel ist es Gott selber, der die Führung übernimmt und verspricht, wieder ein guter Hirte zu sein. Er fügt den drei Worten „verloren, verwirrt, verwundet“ ein viertes hinzu „verbunden“. Gott wird heilen und verbinden. Er wird das Verlorene suchen und das Verwirrte trösten. Er ist der Hirte, der führt.

Und in seinem Namen gibt es viele, die nicht sich selbst weiden. An diesem Sonntag erinnern wir uns auch an den, der gesagt haben soll: „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen!“

Vor 500 Jahren trat Martin Luther vor den Wormser Reichstag und musste sich verteidigen. Den berühmten Satz hat er wohl nicht genau so gesagt, aber die Worte zeigen doch deutlich seine Haltung. Nicht sein Leben, nicht seinen Gewinn oder seinen Ruf verteidigte er, sondern die Sache Gottes, seinen Glauben und damit etwas, was für alle Menschen wichtig sein würde.

Mit dieser Haltung hat Martin Luther geführt und geleitet, die Reformationsbewegung angestoßen. In dieser Haltung treten die guten Hirten auf – bis heute.

Ein guter Hirte kennt mehr als zwei Schubladen, in die er Menschen steckt. Er wagt sich auf unbekanntes Terrain und steht ein für seine Herde. Er traut sich etwas zu, weil er auf Gottes Führung und seine Kraft vertraut. Ein guter Hirte verbindet, behütet und sorgt für seine Herde.

Und hinter allen guten Hirten dieser Welt, steht der Hirte, der uns alle in Händen hält und sagt: Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein. (Hes 34,31)

Amen. Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.

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