Predigt über 1. Mose 50,15-21 von Kerstin Strauch

Liebe Gemeinde,

befragt nach den wichtigsten Dingen im Leben antworten die meisten Menschen: meine Familie. Die Familie ist das Netz sozialer Sicherheit, in das sich Menschen fallen lassen können. Familie – wenn sie gut funktioniert – schenkt uns Sicherheit und Geborgenheit. Die Kernfamilie war in Pandemiezeiten oft der einzige persönliche Kontakt. Für manche war das ein Glücksfall, für andere eine zunehmende Herausforderung. Denn Familie kann man sich – im Gegensatz zu Freunden – nicht aussuchen, aber gerade deshalb ist sie ja auch für einen da.

Wenn Menschen zusammenkommen ist eine der häufigsten Fragen: „Und, was machen die Kinder?“ oder „Wie geht’s deinem Mann, deiner Frau, deinen Eltern?“ Familiengeschichten werden gerne und viel erzählt. Wie stolz ist die Oma, wenn Sie den ersten selbst geschriebenen Brief der Enkel in Händen hält, was für ein großer Augenblick ist es, wenn der Neffe oder die Nichte heiratet oder wie schön ist es, wenn Menschen wieder zu Familientreffen zusammenkommen können.

Die Bibel, besonders das Alte Testament, ist voll von Familiengeschichten. Es sind Geschichten, die vom Zusammenhalt erzählen, aber auch von Enttäuschung und Streit, von Erwartungen und Ängsten. So auch bei Jakob und seinen Kindern. Wir hören den Predigttext aus dem 50. Kapitel des 1. Buches Mose (VV. 15-21):

Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben.

Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach:

So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters! Aber Josef weinte, als sie solches zu ihm sagten.

Und seine Brüder gingen hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte.

Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt?

Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.

So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.

Viel Unrecht haben die zehn Brüder Josefs ihrem Bruder angetan. Er war das Lieblingskind seines Vaters Jakob gewesen. Ganz offensichtlich hatte er Josef bevorzugt. Die Brüder waren so stinksauer deswegen, dass sie Josef kurzerhand in einen Brunnen geworfen und an eine Karawane verkauft hatten. Dem Vater erzählten sie, Josef sei von einem wilden Tier getötet worden. Wie groß war die Trauer bei Jakob!

Wie groß war die Angst bei Josef, der mit vollkommen fremden Leuten in ein vollkommen fremdes Land – nach Ägypten – kam. Doch Josef ist nicht allein. Gott ist an seiner Seite. Er behütet Josef und lässt ihn am Hof des Pharaos ganz groß rauskommen. Josef wird zum zweitmächtigsten Mann im Staat. Er lebt in Wohlstand und ist ein angesehener Mann. In der Zwischenzeit geht es seiner Familie, die weiter in Kanaan lebt, weniger gut. Nach großer Dürre bricht eine Hungersnot aus. Die Brüder fühlen sich gezwungen, die weite Reise nach Ägypten anzutreten, um dort Nahrung zu besorgen. Nicht ahnend, dass sie dort auf ihren Bruder Josef treffen würden, kommen die Brüder an den Hof des Pharaos. Es kommt zu einer dramatischen Wiedersehensgeschichte. Die Brüder haben furchtbare Angst vor möglicher Rache. Schließlich wissen sie, was sie Josef angetan haben. Jakob, ihr Vater, aber ist überglücklich, als er hört, dass sein geliebter Sohn doch am Leben ist.

Unser Predigttext beschreibt, was nach dem Tode Jakobs geschieht.

Wenn ein Elternteil stirbt, ist das für viele Familien ein ganz einschneidendes, schmerzhaftes Ereignis. Die Mutter, der Vater hinterlassen eine Lücke, die nicht wieder zu schließen ist. Kommen dann auch noch Konflikte hinzu, die lange in einer Familie schwelen, ist die Trauer ungeheuerlich.

Da stirbt nach vielen Jahren der Krankheit eine Mutter von zwei erwachsenen Kindern. Der Sohn hat sich nach der schlimmen Diagnose seiner Mutter beurlauben lassen und sich von da an jahrelang nur um sie gekümmert. Alles hat er für sie aufgegeben und alle müssten kürzer treten: seine Frau, seine Kinder, seine Freunde, seine Hobbies. Anfangs konnte er noch mit ihr nach draußen gehen. Dann wurde es immer schlimmer. Die letzten zwölf Monate hat sie nur noch im Bett gelegen, hat ihn nicht mehr erkannt. Seine Schwester war weit weg gewesen. Direkt nach der Ausbildung war sie von zu Hause ausgezogen. Sie wollte die Welt sehen. Zwei bis dreimal im Jahr kam sie nach Hause und ging nicht wieder, ohne eine kräftige Finanzspritze der Mutter. Ständig machte die Mutter sich Sorgen um sie – rief sie doch oft monatelang nicht an. Als die Mutter dann krank wurde, meldete sie sich gar nicht mehr. Kurz vor ihrem Tod stand sie schließlich doch noch vor der Tür. Die Mutter, die nicht mehr sprechen konnte, strahlte sie an. Beide lagen sich in den Armen. Nach dem Tod der Mutter sitzt der Bruder mit seiner Schwester zusammen am Tisch. Sie müssen die Beerdigung planen und vieles andere auch noch regeln. Haben sie sich überhaupt etwas zu sagen?

Als der Vater Jakob stirbt, haben die Brüder furchtbare Angst, erneut zu Josef zu gehen. Was wird er wohl sagen? Wird er ihnen nicht zu Recht Vorwürfe machen, ja ihnen vielleicht noch Schlimmeres antun, was er nur aus Rücksichtnahme auf den Vater bisher nicht getan hatte?

Josef aber tut etwas ganz anderes. Er sagt zu seinen Brüdern: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.

So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.

Es geht hier nicht darum, das Vergangene ungeschehen zu machen. Es geht aber um Versöhnung. Josef blickt zurück, er weiß um all das Unrecht, was ihm geschehen ist, aber er sieht auch nach vorn und entscheidet sich für einen Neuanfang, nicht allein, sondern zusammen mit seiner Familie, mit seinen Brüdern. Josef hat Gottes Barmherzigkeit erfahren. Er hat am eigenen Leben gemerkt, wie Gott sich um ihn gekümmert hat, als er am Tiefpunkt seines Lebens angekommen war. Er hat auf Gott vertraut und das hat ihm immer wieder neue Kraft gegeben. Manchmal hat er das nicht direkt gespürt. Aber im Rückblick erkennt er es ganz deutlich: Gott war die ganze Zeit bei mir. Er hat mich nie verlassen.

Und so kann er seinen Zorn, seine Rachegedanken, seine Angst bei Gott zurücklassen. Er kann vergeben, weil Gott vergeben kann. So gelingt die Versöhnung. Und schließlich wird der, dem das Unrecht geschah, der allen Grund gehabt hätte zornig zu sein und Strafen zu fordern, selber zum Tröster und Helfer für seine Familie. Nur durch Josef hatte das Volk Israel eine Zukunft.

Es geht immer um Zukunft, bei jedem Streit. Da muss etwas geklärt werden, damit es weitergehen gehen kann. Eine Mauer des Schweigens soll durchbrochen, der Kontakt wieder aufgenommen werden – denn: so kann, so soll es nicht weitergehen! Die meisten von uns sind Menschen, die in Harmonie leben möchten. Manchmal geht es nicht ohne Streit, damit Frieden gelingen kann (und damit meine ich keine kriegerischen Auseinandersetzungen, sondern ein gutes Streiten mit Argumenten und Zuhören).

Was aber, wenn mein Gegenüber mauert? Wenn ich noch so viele Versuche unternehme und auf kein offenes Ohr stoße? Leider endet bei weitem nicht jede Konfliktgeschichte so wie bei Josef, mit einem Happy End. Dazu möchte ich Ihnen zwei Gedanken mit auf den Weg geben:

  1. Ich kann meine eigene Einstellung, meine Haltung ändern. Aber mein Gegenüber nicht. Der andere wird sich nicht ändern, weil ich das so will. Vielleicht gelingt in Gesprächen und mit viel Zeit, dass er oder sie selber merkt, es wäre gut, meine Haltung zu überdenken. Aber dafür bin ich nicht verantwortlich. Ich kann versuchen, immer wieder Schritte auf ihn oder sie zu zu machen und dafür zu beten, dass ein Gespräch gelingt.
  2. Versöhnung und Vergebung sind zwei unterschiedlich Dinge. Zuerst muss ich vergeben können, dem anderen und auch mir selbst. Das kann ungeheuer schwer sein. Oft ist Gottes Hilfe dazu nötig. Ich kann vergeben, auch wenn kein Kontakt zum anderen zustande kommt. Das ist wichtig, damit ich Frieden finde. Auch das braucht viel Zeit und Hilfe. Versöhnung geschieht nur im Kontakt. Es ist Ausdruck gegenseitiger Vergebung. Versöhnung ist ein Fest und ein Geschenk. Wie bei Josef und seinen Brüdern.

So gilt auch uns, was er zu seinen Geschwistern sagt: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen.

Gott wird es gut machen. Auch mit uns.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

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