Predigt zur Goldkonfirmation am Sonntag Trinitatis (26.05.24) über Psalm 90,1-2 von Kerstin Strauch

Liebe Goldenen Konfirmandinnen und Konfirmanden, liebe Gemeinde,

„ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen“, schreibt der Dichter Rainer Maria Rilke.

Jahresringe kennen wir von Bäumen. Ganz in der Mitte fing es an. Durch Wind und Regen, Sonne und Wärme, durch Nährstoffe aus dem Boden und Wurzeln, die immer tiefer ins Erdreich wuchsen, ist Jahr für Jahr ein Ring dazu gekommen. Der Baum ist gewachsen.

Und so auch wir. Fünfzig Jahre ist es her, dass Sie konfirmiert wurden. Die meisten von Ihnen sind seit damals vermutlich auch noch gewachsen: aus dem schmalen Konfirmanden von einst ist ein großer und gestandener Mann geworden. Aus der zierlichen Konfirmandin eine selbstbewusste Frau. Mit manchen „wachsenden Ringen“ sind wir vielleicht weniger zufrieden – doch das steht auf einem anderen Blatt.

Innerliches Wachstum lässt sich nicht in Zentimetern oder Kilogramm messen. Innerliches Wachstum geht immer weiter. Jahr für Jahr wachsen wir – auch heute noch. Eltern, Großeltern, Geschwister und Schulfreunde waren es vor vielen Jahren, die uns geprägt haben. Sie waren für uns da, haben uns aufgezogen. Eltern, Lehrerinnen und Lehrer haben uns erzogen. Vielen und vielem sind wir begegnet. Wir wuchsen, genährt von Liebe, von Gesprächen, Erfahrungen. Manche suchten eigene Wohnungen oder bauten Häuser, gründeten Familien, entwickelten sich beruflich weiter. Die Wurzeln wuchsen weiter.

Doch so ein Baum entwickelt sich in mehrere Richtungen – nach unten wie nach oben. Er streckt sich dem Licht entgegen. Und so suchte auch jede und jeder von Ihnen nach Glück, nach Orientierung, nach Halt. Wir strecken uns dem Himmel entgegen und hoffen auf Segen, auf gelingendes Leben.

Hier vorne haben wir eine große Baumscheibe. Sie ist einmalig – das Muster, die Form, die Ringe. Es gibt keinen Baum, der identisch wäre. Genauso ist es ja auch mit uns. Und ehrlich gesagt ist dieses Muster, sind diese Ringe ein bisschen schief und krumm. Nicht perfekt. Das zeugt von dem Leben des Baumes. Schmale Ringe für Zeiten von wenig Wachstum und dann wieder größere Ringe, zusätzliche Astlöcher oder Verfärbungen. Was für ein Bild für unser Leben in wachsenden Ringen!

„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn.“, schreibt Rilke.

Wie bei den Bäumen legt sich auch bei uns ein Jahresring über den anderen. Kein Jahr ist wie das andere. Im Jahr 1974, dem Jahr Ihrer Konfirmation, wurde in der Bundesrepublik die Volljährigkeit von 21 auf 18 Jahre herabgesetzt. Die erste Jahreshälfte war noch durch die Ölkrise bestimmt. Alexander Solschenizyn, dem sowjetischen Literaturnobelpreisträger, wurde die Staatsbürgerschaft aberkannt. Er verbrachte die ersten Tage nach der Ausweisung bei Heinrich Böll in Köln. Nach vielen Verhandlungen wurden Ständige Vertretungen in der Bundesrepublik und der DDR eingerichtet. Die schwedische Gruppe ABBA gewann mit dem Song „Waterloo“ den Grand Prix de la Chanson. Die Guillaume-Affäre nahm ihren Lauf, in Folge derer Bundeskanzler Willy Brand zurücktrat. Deutschland wurde am 7. Juli mit einem 2:1 Sieg über die Niederlande in München Fußballweltmeister.

Das waren ein paar Großereignisse aus dem Jahr Ihrer Konfirmation. Viel wichtiger aber waren die ganz persönlichen Ereignisse. Mit 14/15 Jahren wurden so manche Entscheidungen auf dem Weg ins Erwachsenwerden getroffen. Ein Jahresring legte sich an den anderen. Und so unterschiedlich unsere Biographien auch sind, für alle gilt: Es wird Schönes und Schweres gegeben haben. In beidem sind wir gewachsen.

50 Jahre nach der Konfirmation finden wir uns heute wieder hier in der Kirche zusammen. Wieder bekommen Sie einen Segen zugesprochen, wie damals, bei Ihrer Konfirmation:

„Unser Gott, der euch bis heute begleitet hat durch schöne und schwere Zeiten, bleibe bei euch und stärke euch auf dem Weg, bis ihr ans Ziel kommt. Es segne euch Gott, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist.“

Auch heute soll Sie dieser Segen über eine Schwelle tragen. Damals standen Sie auf der Schwelle zum Erwachsenwerden. Die Soziologie spricht von insgesamt vier Lebensphasen. Heute sind Sie sozusagen in der Mitte angelangt. Das „dritte“ Alter beginnt jetzt, mit dem Eintritt in den Ruhestand, wenn Sie als Eltern keine Pflichten mehr haben und hoffentlich noch einmal neue Freiheiten gewinnen.

Bei so einer Baumscheibe wissen wir nicht, wie viele Jahresringe sich ansammeln. Und auch wir wissen nicht, wie viele Ringe sich noch um unser Leben legen werden und auch nicht, ob es gute oder schlechte Jahre sein werden.

„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn. Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn.“ So dichtete Rilke 26 Jahre vor seinem Tod. So spricht einer, der bis zum Schluss seines Lebens wachsen will. Wie aber schafft man das?

Die Forschung bringt das Geheimnis für „glückliches Älterwerden“ auf die „Vier-L-Formel“. Dabei geht es 1. ums Laufen, also um Bewegung, 2. ums Lernen, also um Bewegung im Kopf, 3. ums Lieben – um unser Leben in Beziehung und 4. ums Lachen, denn Lachen hält Körper und Seele gesund. Laufen, Lernen, Lieben, Lachen – das ist für uns alle wichtig.

Ich möchte noch ein fünftes L hinzufügen: das Loben! Im 90. Psalm lesen wir: Herr, du bist unsere Zuflucht für und für. Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurde, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit. (Psalm 90,1-2)

So eine Baumscheibe wächst von innen heraus. Sie kreist sozusagen um sich selbst. Beim Loben geht es darum, sich nicht nur auf sich selbst zu beziehen. Ich lebe mein Leben in dem Bewusstsein, dass es etwas gibt, das größer ist und außerhalb meiner selbst liegt. Daraus bekomme ich Kraft und Orientierung. In Gottes Hand bin ich aufgehoben, egal ob ich gerade schwere oder gute Zeiten erleben. Denn Gott ist mein Zufluchtsort. Er ist immer da. Das erkennt der Beter des 90. Psalms und das veranlasst ihn, Gott zu loben.

Rilke nennt Gott den „uralten Turm“, um den alles in seinem Leben kreist:

Ich kreise um Gott, den uralten Turm, und ich kreise jahrtausendelang; Und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm oder ein großer Gesang.

Gottes Zeitrechnung funktioniert anders als unsere. Im eben zitierten 90. Psalm heißt es ein paar Verse später: Denn tausend Jahre sind vor dir wie er Tag, der gestern vergangen ist. (Psalm 90,4)

Unser Leben ist Veränderung. Wir sind ständig unterwegs – in unserem Alltag, zu besondern Terminen oder auch in Gedanken. Manchmal kreisen wir ruhig wie ein Falke durch die Luft, dann wissen wir kaum, wie die stürmischen Zeiten zu bestehen sind. Und dann gibt es auch diese Momente des großen Glücks, wenn alles im Einklang ist – wie ein großer Gesang.

Rilke dichtete: „Ich weiß es noch nicht“ und ja, auch wir wissen es noch nicht: wie unser Leben weiter verlaufen wird, was da in den nächsten Jahren auf uns zukommt. Ich weiß es auch noch nicht, auch nicht, wie es weitergeht mit meinem Glauben. Denn auch mein Glaube ist ständig in Bewegung. Das Leben mit Gott ist wie das Leben überhaupt: mal ruhig, mal stürmisch, mal Lobgesang.

Eines aber ist sicher: Gott bleibt – wie der uralte Turm. Er ist der Zufluchtsort, zu dem ich immer kommen kann. Sein Segen stärkt uns für alle weiteren Wege. Und irgendwann wird Gott der Ort sein, wo ich für immer bleiben kann. Dann werden alle einstimmen in den großen Gesang:

Herr, du bist unsere Zuflucht für und für. Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurde, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.

Schreibe einen Kommentar